Die Titanic nimmt Kurs – vom zweifelhaften Erfolg eines Gesetzes zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit
Oder: Wenn die Wohltaten des Staates zur Pflege werden
Von den Gewerkschaften vielfach gelobt, soll es die „Flucht aus der Sozialversicherung“ stoppen (Finanztest 3/99), eine Antwort auf die „verschärfte Wettbewerbs- und Arbeitsmarktsituation“ (Deutscher Bundestag, Drucksache 14/45) sein, den „Weg für die Beseitigung des Normalarbeitsverhältnisses“ verstellen (betrieb/gewerkschaften 1/99).
Was für die einen eine längst überfällige Korrektur bedeutet, charakterisieren andere – je nach politischer Couleur oder Verbandszugehörigkeit – als „Gesetz der industriellen Frühzeit“ (Die Welt, 17.03.1999).
Die Rede ist vom „Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte“ vom 18.12.1998, das die Einbeziehung von „Scheinselbstständigen“ in die Sozialversicherung erleichtern soll.
Die wichtigste Bestimmung dieser Neuregelung bildet der § 7 Abs. 4 SGB IV.
Danach wird zur Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft fortan geprüft, ob der „freie Mitarbeiter“
1. keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigt
2. regelmäßig nur für einen Auftraggeber arbeitet
3. für Beschäftigte typische Arbeitsleistungen erbringt
4. nicht aufgrund unternehmerischer Tätigkeit am Markt auftritt.
Erfüllt der „freie Mitarbeiter“ mindestens zwei dieser vier Kriterien, wird vermutet, dass er Arbeitnehmer und somit sozialversicherungspflichtig ist und zwar mit gravierenden rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen, die noch aufzuzeigen sein werden.
Das Korrekturgesetz, ein Beschäftigungsprogramm für Anwälte?
Nicht ganz zu Unrecht wird die gesetzgeberische Maßnahme als „Beschäftigungsprogramm für Anwälte“ beschrieben. Die Juristen prüfen Verträge, entwerfen Fragebögen und denken über Schlupflöcher nach (Wirtschaftswoche Nr. 12/18.03.1999).
Der Verfasser ist mit Anfragen aus dem gesamten Bundesgebiet und aus nahezu allen Branchen konfrontiert, die belegen, dass eine erhebliche Verunsicherung eingetreten ist, die nachhaltigen Einfluss auf die Investitionsbereitschaft hat und daher alle nachdenklich stimmen sollte, die sich um einen sachgerechten Ausgleich unterschiedlicher Standpunkte und um eine funktionierende Wirtschafts- und Sozialordnung bemühen, und zwar im Interesse aller Beteiligten.
Die Furcht von Unternehmern, kaum überschaubaren finanziellen Risiken ausgesetzt zu sein, ist nicht unbegründet. Eben deswegen ist jedoch hektische Betriebsamkeit ebenso wenig ratsam, wie ein allzu sorgloser Umgang mit der Neuregelung. Die bisherigen Erfahrungen lassen vermuten, dass die zuständigen Sozialversicherungsträger mit einer lückenlosen Erfassung sog. Scheinselbstständiger beginnen.
So verständlich der Wunsch nach einfachen Lösungsmodellen sein mag, eine passe-partout-Variante gibt es nicht. Dennoch ist es möglich, Verhaltensmuster und individuelle vertragliche Lösungen zu entwickeln, die eine gesetzeskonforme und verlässliche Grundlage für Unternehmen und ihre Vertragspartner sind.
Zu empfehlen ist in jedem Fall:
- problembehaftete Vertragsverhältnisse und ihre faktische Ausgestaltung zu überprüfen und gegebenenfalls der veränderten Situation anzupassen;
- Bescheide der Sozialversicherungsträger wegen der zu erwartenden Fehlerhäufigkeit anzugreifen. Dabei sollte nicht ausschließlich formaljuristisch argumentiert werden; vielmehr sind die jeweiligen Verfahren zu nutzen, um den Entscheidungsträgern deutlich zu machen, daß die Regelung nicht praktikabel ist.
Richtig akzentuiertes präventives Verhalten setzt jedoch ein gewisses Verständnis für die rechtlichen und politischen Gesamtzusammenhänge voraus. Ohne dieses Verständnis ist eine richtige Reaktion im „Ernstfall“ kaum möglich.
Die Regelungswut des deutschen Gesetzgebers
Von Montesquieu stammt der Satz: „Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nötig, kein Gesetz zu machen“ (De l’Esprit des Loix). Diese Weisheit des französischen Rechts- und Staatsphilosophen hat nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt, und sie gilt allemal für die Regelungswut des deutschen Gesetzgebers.
Fragwürdige „Scheinarbeitsverhältnisse“ gibt es seit langer Zeit. Wer vertragliche Konstruktionen so wählt, dass der Vertragspartner in den Betrieb eingeordnet wird und weisungsabhängig ist, beschäftigt Arbeitnehmer. Wer in diesem Fall die Arbeitgeberanteile zu den Sozialversicherungen nicht zahlt, umgeht in unzulässiger Weise die Schutzfunktion des Arbeits- und Sozialrechts. Die bisherigen Regelungen boten stets ein geeignetes Instrumentarium, einen derartigen Missbrauch zu unterbinden, etwa durch die Meldung an die Sozialversicherungsträger oder durch die Statusklage zum Arbeitsgericht. Sie wurden allerdings nicht in gebotener Weise genutzt. Schon insoweit ist das Bedürfnis nach einer Neuregelung zumindest zweifelhaft.
Das Korrekturgesetz hat die Wirkung einer Lawine
Es gibt zentrale Begriffe im Recht, die in ihrer Wirkungsweise an das „Window-Prinzip“ des Software-Herstellers Microsoft erinnern: Werden sie auf der Benutzeroberfläche „angeklickt“, so öffnen sich zahlreiche Unterfunktionen. So verhält es sich mit den Begriffen „Arbeitnehmer“ oder „Selbstständiger“ (Scheinselbstständiger). Diese Begriffe sind Schaltstellen, die den Zugang zum gesamten Sozialversicherungsrecht ermöglichen, also einem gesetzlichen Programm, das grundlegende Gesundheits- und Lebensrisiken absichern will (Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit, Invalidität oder Tod eines Unterhaltspflichtigen). Darüber hinaus öffnet der Begriff das Tor für das gesamte Arbeitnehmerschutzrecht (Kündigungsschutzgesetz, Tarifvertragsgesetz, Arbeitszeitgesetz, Entgeltfortzahlungsgesetz usw.)
Auf diese Weise ist ein Sicherungssystem geschaffen worden, das Ergebnis einer mehr als 100-jährigen Entwicklung ist. Es ist das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, ein sorgfältig austarierter Regulationsmechanismus nach dem Prinzip: soviel Freiheit wie möglich, soviel Schutz wie nötig.
Wer – wie im Ergebnis geschehen – durch Vereinfachung des Arbeitnehmerbegriffs, durch seine statische Festlegung, das Zugangstor erweitert, löst eine Lawine aus. Er bezieht Vertragsverhältnisse oder Personenkreise ein, die des Schutzes häufig nicht bedürfen oder aus legitimen Gründen auf diesen Schutz bewusst verzichten wollen. Dabei gerät das System in eine gefährliche Schieflage, denn es sollte den Kreis der Berechtigten nicht unnötig erweitern, vielmehr nur dort greifen, wo der Schutz notwendig ist. Dem Patienten, das marode Sozialversicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland, wird ein Medikament verabreicht, das den Kranken kurzfristig belebt, weil es die Kassen klingeln lässt. Freilich ist das Medikament nicht mit einem Beipackzettel versehen. Mit den Risiken und Nebenwirkungen beschäftigen sich die Anwälte.
Exakt dies ist die Crux:
Vermutlich hat der von ehrenwerten Motiven geleitete Gesetzgeber die vielfältigen Auswirkungen eines mit „heißer Nadel“ gestrickten Gesetzes nicht gesehen.
Entsprechend heftig ist die Kritik von Verbänden, Interessengruppierungen und Unternehmern, die durch folgende – exemplarisch vorgetragene Sachverhalte – nachvollziehbar werden:
1. Ein mittelständisches Unternehmen aus der (problembehafteten) Frachtbranche beschäftigt laufend etwa 60 Spediteure, davon zur Hälfte Familienunternehmen, die ein beachtliches Einkommen erzielen, jedoch dem o. g. Kriterienkatalog des § 7 Abs. 4 SGB IV unterfallen. Aus der Neuregelung zieht der Unternehmer eine – aus seiner Sicht nachvollziehbare – Konsequenz: Er kündigt die Verträge und konzentriert die zu vergebenden Aufträge auf größere Unternehmen. Die Folge ist der Verlust der Existenzgrundlage zahlreicher Familien. Das Gesetz wirkt damit kontraproduktiv, indem es nämlich negative Auswirkungen für den vermeintlich „Schwächeren“ hat, dessen Schutz es eigentlich bezwecken soll.
2. Ein Unternehmer der Computerbranche erhält ständig von einem namhaften deutschen Konzern High-Tech-Aufträge, zu deren Bewältigung er hochspezialisierte Ingenieure, Physiker und Informatiker als Subunternehmer einsetzt. Die Auftragslage ist derart exzellent, ein Beleg für die Güte der Arbeit, dass die vorgenannten Subunternehmer ausschließlich für einen Auftraggeber tätig werden und vor allem damit dem Kriterienkatalog unterfallen, obwohl sie – verteilt im ganzen Bundesgebiet – eigene Betriebsstätten unterhalten und nicht das geringste Interesse daran haben, in einen Betrieb eingegliedert zu werden.
3. Vom Gesetz betroffen sind vor allem auch freie Journalisten, die sich häufig nicht den Weisungen eines „Arbeitgebers“ unterwerfen wollen und frei entscheiden möchten, welchen Medien sie ihre Beiträge anbieten. In einem Protestbrief an den Bundeskanzler kritisieren Zeitungs- und Zeitschriftenverleger die Gefahr der „Reduzierung des redaktionellen Angebots“ und die drohende „Verarmung der Presselandschaft“. Unterzeichner sind unter anderem der Präsident des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, Wilhelm Sandmann, der Präsident des Zeitschriftenverlegerverbandes, Hubert Burda sowie weitere namhafte Verleger, darunter Rudolf Augstein, Heinz Bauer, August Fischer, Dieter von Holtzbrinck und Gerd Schulte-Hillen (Die Welt, 18.03.1999). Deren Kritik ist um so verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass Journalisten vom Künstlersozialversicherungsgesetz erfasst werden, für die soziale Absicherung der Journalisten außerhalb des sonstigen Sozialversicherungssystems also bereits Sorge getragen wurde.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Nun ist es an sich kein ungewöhnlicher Vorgang, dass mächtige Interessenverbände – von welcher Seite auch immer – kollektive Betroffenheit artikulieren, wann immer Veränderungen vorgenommen werden, die die jeweiligen materiellen Interessen berühren. Dies mag Grund dafür sein, dass eine befriedigende Resonanz der Bundesregierung auf kritische Stimmen kaum auszumachen ist, wenngleich über gewisse Änderungen des Gesetzes bereits diskutiert wird (Frankfurter Rundschau, 17.03.1999).
Die Kritik aus sehr unterschiedlichen Branchen und von sehr unterschiedlichen Verbänden macht jedoch eine Besonderheit deutlich, die nachdenklich stimmen muss. Die Vielzahl kritischer Stimmen belegen wie die exemplarisch vorgetragenen Sachverhalte, dass hier offensichtlich ein Gesetz erarbeitet worden ist, das einer veränderten Lebenswirklichkeit nicht mehr entspricht. Das hier diskutierte Korrekturgesetz knüpft an einen überholten Begriff des „Arbeitnehmers“ oder des „Selbständigen“ an. Nicht nur in diesem Zusammenhang wird in der juristischen Literatur die „Überalterung des arbeitsrechtlichen Systems“ kritisiert (Heinze, Neue Zeitschrift für Arbeit und Sozialrecht 1997, 1). Bei allem Respekt vor den unzweifelhaften Verdiensten deutscher Obergerichte bei der Gestaltung der Rechtsordnung: Auf manche Herausforderung reagiert die Rechtsprechung so schwerfällig wie die Titanic vor dem Eisberg. Die Folgen sind bekannt. Mit Hümmerich lässt sich daher zutreffender formulieren: „Es gibt Zeiten, in denen die Gedankengebäude der Rechtswissenschaft zusammenbrechen, weil sie sich von dem Phänomen der realen Welt entfernt haben und der Wirklichkeit keinen ausreichenden Platz mehr bieten“ (Hümmerich, Neue Juristische Wochenschrift 1998, 2625 ff).
In der Tat ist der heutige Arbeitnehmerbegriff mit der Entstehung der Bismarck’schen Sozialgesetze verbunden, entstand somit zu Beginn der Industrialisierung vor über 100 Jahren. „Leitfigur war der (Fabrik)Arbeiter, der, in erbärmlichen Verhältnissen lebend, einen ganzen Tag lang unter harten Arbeitsbedingungen zu einem geringen Arbeitslohn schuftete“ (vgl. Hümmerich, Neue Juristische Wochenschrift 1998, a. a. O.).
1. Zu Recht ist in der juristischen Literatur darauf hingewiesen worden, dass menschliche Arbeit nicht selten nur betriebswirtschaftlich beurteilt wird, nämlich als ein Kostenfaktor bei der Gewinnerzielung. Vor diesem Hintergrund entscheiden Banken über Kreditvergaben im Rahmen von Investitionen, analysieren die Kosten, „ähnlich wie die Börse, ähnlich wie die Aktionäre“ (vgl. Hümmerich, Neue Juristische Wochenschrift 1998, a. a. O.). Man mag das Diktat von Preisen, Wettbewerb- und Marktchancen beklagen. Es ist und bleibt jedoch eine Realität, die zur Kenntnis genommen werden muss.
Allerdings bedeutet das Akzeptieren dieser Realität nicht notwendigerweise eine Abkehr vom Sozialstaatsprinzip. Wer in dieser Diskussion ernst genommen werden will, wird dieses fundamentale Verfassungsprinzip und die mit dem sozialen Sicherungssystem verbundenen historischen Leistungen nicht in Frage stellen. Eine dauerhaft stabile Wirtschaft ist ohne ausgeglichene Wirtschafts- und Sozialordnung nicht denkbar. Allerdings verlangen veränderte Bedingungen unter Umständen fundamental neue Strukturen.
2. Die Vermutung, dass Unternehmen herkömmliche Arbeitnehmer ausschließlich in den Status des Selbstständigen / Scheinselbstständigen „drängen“, um die Schutzfunktionen des Sozial- und Arbeitsrechts zu umgehen, verkennt, dass neue Bedürfnisse im Wirtschaftsleben entstanden sind, die sich teilweise nur sekundär mit dem Erfordernis der Kostensenkung erklären lassen. In der juristischen Literatur wurde darauf hingewiesen, dass die Dynamik technischer Entwicklungen Auswirkungen auf Organisations-, Fertigungs- und Kommunikationsstrukturen hat. Dies erfordert bzw. ermöglicht, „Eigenverantwortlichkeit zu stärken“ und die Weisungsunterworfenheit einzuschränken (vgl. Hümmerich, Neue Juristische Wochenschrift 1998, a. a. O.), und zwar, dies ist entscheidend, ungeachtet bestehender wirtschaftlicher Abhängigkeit.
Die Befürworter der Neuregelung werden diesem Argument entgegenhalten, die angesprochenen Personenkreise seien nicht tangiert, vielmehr könne, etwa bei angenommener wirtschaftlicher Abhängigkeit, der Beweis der Selbständigkeit erbracht werden. Exakt hier setzt jedoch die Kritik an, da die gesetzliche Regelung bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen menschliche Dienstleistungen schwerpunktmäßig in den „Schoß des Arbeitsrechts“ einbetten will.
Daher ist mit Heinze (Heinze, Neue Zeitschrift für Arbeit und Sozialrecht 1997, 2) die Frage zu stellen, ob etwa das arbeitsrechtliche System seinen Segen über wirklich Gerechte wie Ungerechte, über Schutzbedürftige wie solche, die des Schutzes nicht oder nicht in jeder Hinsicht bedürfen, ausschütten muss, kurz: Wann werden die Wohltaten des Sozialstaats zur Plage?
Autor: Franz Dänekamp, veröffentlicht in „der neue vertrieb 5/99, S. 60 ff.“